Die Enthüllung geheimer Pentagon-Dokumente bedeutet einen Rückschlag für die
USA und die Ukraine
Die amerikanische Regierung ist mit der illegalen Veröffentlichung von Geheimdokumenten des Verteidigungsministeriums konfrontiert. Auch wenn der Schaden in seinem
Ausmass noch nicht absehbar ist, dürfte es sich um einen der gravierendsten Fälle von Geheimnisverrat seit mehr als einem Jahrzehnt handeln. Über eine undichte Stelle im
Pentagon sind Anfang März laut amerikanischen Medienberichten mehr als hundert Geheimdokumente ins Internet gelangt. Die Administration Biden strebt eine Löschung an,
aber mehrere Dutzend Dokumente sind über verschiedene Kanäle weiterhin einsehbar.
Besonders brisant ist eine Sammlung von rund zehn Übersichtsgrafiken zum Stand des Ukraine-Krieges und der Ausrüstung ukrainischer Truppen durch die Nato. Angaben
über laufende oder künftige Militäroperationen sind darin aber nicht enthalten. Andere Dokumente betreffen heikle Interna zu Israel, Südkorea und weiteren Ländern. Sie stammen laut dem «Wall Street
Journal» zum Teil aus den täglichen nachrichtendienstlichen Lageberichten, die für den Verteidigungsminister und den Vorsitzenden der Joint Chiefs of Staff erstellt werden, aber einem breiteren Kreis von
Personen im Pentagon zugänglich sind.
ECHTE - Ukraine-Dokumente
Das haben anonyme Pentagon-Beamte gegenüber amerikanischen Medien bestätigt,
und davon zeugen auch die
offiziellen Reaktionen. Das Justizministerium in Washington leitete am Freitag auf
Antrag des Pentagons eine
Untersuchung ein. Zudem kündigte in Kiew Präsident Wolodimir Selenski
Massnahmen zur
Verhinderung von Geheimnisverrat rund um geplante Operationen der ukrainischen
Streitkräfte an.
Ein wichtiger Anhaltspunkt für die Ermittlungsbehörden ist der Umstand, dass alle
Dokumente zuerst ausgedruckt
wurden, denn laut Experten ist dies im Pentagon nur von speziellen und überwachten
Druckern aus möglich.
Fotografien dieser Papiere wurden danach von der unbekannten Täterschaft Anfang
März auf die vor allem bei
Spielern von Computerspielen beliebte Plattform Discord hochgeladen. Unklar ist,
wann amerikanische Stellen
oder feindliche Geheimdienste sie dort entdeckt haben. Auf Twitter und in russischen
Telegram-Kanälen scheinen die
Ukraine-Dokumente erst seit Mittwoch zu zirkulieren.
Die im Zentrum des Interesses stehenden zehn Übersichtsgrafiken zum Ukraine-Krieg
sind von sehr unterschiedlicher
Bedeutung. Sie datieren alle vom 1. März oder von den Tagen davor, entsprechend sind
viele Informationen darin
bereits veraltet. Das gilt besonders für fünf Karten von ukrainischen Frontabschnitten.
Beispielsweise enthält jene zum
Abschnitt Donezk Angaben zur Position der eingesetzten russischen und ukrainischen
Kampfeinheiten sowie eine
Schätzung des Kräfteverhältnisses (23 000 Russen gegen 10 000 bis 20 000 Ukrainer). Aber die Grafik ist insgesamt weniger detailliert als Karten, die private Kriegsforscher aufgrund von öffentlich
verfügbaren Quellen (Osint) in ständig aktualisierter Form im Internet publizieren.
Zeitplan zum Aufbau neuer Angriffstruppen
Weitere Manipulationen sind bisher nicht bekannt geworden. Als authentisch muss insbesondere eine Übersichtsgrafik zur Ausbildung und Ausrüstung ukrainischer Truppen durch Nato-Staaten gelten. Das
als geheim eingestufte, vom 23. Februar datierende Dokument enthält einen Zeitplan für den Aufbau von neun zusätzlichen ukrainischen Kampfbrigaden. Diese sollen Ende März beziehungsweise Ende April
für die geplante Frühlingsoffensive bereitstehen. Ukrainische Brigaden können bis zu 4000 Mann umfassen, zählen derzeit aber wegen hoher Verluste nur 1250 bis 2500 Angehörige.
Auch wenn das Dokument teilweise veraltet ist, bedeutet die Enthüllung für die Nato und ihre ukrainischen Partner einen herben Rückschlag. Denn es führt detailliert auf, mit welchen schweren Waffen die
einzelnen Brigaden ausgerüstet werden sollen und wie weit der Ausbildungsstand der Truppe ist. Es zeigt sich dabei, was allerdings schon bisher kein wirkliches Geheimnis war, dass der Nato noch Dutzende
von Kampfpanzern fehlen, um die neuen Einheiten plangemäss auszurüsten.
Der russische Generalstab kann dank der Publikation konkrete Vorbereitungen zur Abwehr der erwarteten Gegenoffensive treffen. Unter anderem kann Moskau die eigenen Einheiten mit geeigneten
Defensivwaffen ausrüsten. Eine wichtige Information ist auch die Zusammensetzung der neuen ukrainischen Brigaden – manche werden ausschliesslich über westliches Kriegsgerät wie den Leopard-2-Panzer
oder amerikanische Stryker-Schützenpanzer verfügen, andere über eine Mischung mit modernisiertem sowjetischem Material. Dies wird professionellen Militärplanern Rückschlüsse über mögliche taktische
Details des ukrainischen Offensivplans erlauben.
Aber auch mit Blick auf die künftige geheimdienstliche Zusammenarbeit innerhalb des amerikanischen Bündnissystems ist das Leck im Pentagon potenziell verheerend. Eine naheliegende Reaktion der
Ukrainer dürfte darin bestehen, die Amerikaner über die Grundzüge ihrer Offensive möglichst im Dunkeln zu lassen. Die bisher bekannt gewordenen Dokumente enthalten keinerlei Angaben darüber, an
welchem Frontabschnitt die Kiewer Generalität angreifen möchte. Der Sekretär des ukrainischen Sicherheitsrates, Olexi Danilow, erklärte diese Woche, solche Details seien derzeit nur drei bis fünf Personen
bekannt.